Symposien 2005

WENDE – BRUCH – KONTINUUM.  Die moderne österr. Literatur und ihre Paradigmen des Wandels

Internationale germanistische Tagung

VERANSTALTET VON:

Jan-Evangelista-Purkyně-Universität
Lehrstuhl für Germanistik
České mládeže 8
400 96 Ústí nad Labem
Dr. Renata Cornejo, DDr. Ekkehard W. Haring
Universität Wien
Germanistikinstitut
Karl-Lueger Ring 1
A-1010 Wien
Prof. Wendelin Schmidt-Dengler

in Zusammenarbeit mit dem MUSEUM der Stadt ÚSTÍ NAD LABEM

Wissenschaftliche Konzeption: Prof. Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, Dr. Renata Cornejo, Dr. Ekkehard W. Haring

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Vom 12. bis 16. Oktober 2005 veranstaltete der Lehrstuhl für Germanistik innerhalb der Pädagogischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem, in Zusammenarbeit mit dem Germanistikinstitut der Universität Wien und in Zusammenarbeit mit Prof. Joachim W. Storck (Universität Mannheim), ein viertägiges Internationales germanistisches Symposion, das unter dem programmatischen Titel Wende – Bruch – Kontinuum angekündigt wurde. Schon diese Titelwahl stellt diese Konferenz in einen historischen Kontext, der für ihren Austragungsort von konstitutiver Bedeutung gewesen ist. War doch der Ausbau einer ursprünglich nur „Pädagogischen Fakultät“ zu einer wirklichen Universität tatsächlich die Folge einer historischen „Wende“, sowie auch die Gründung des Lehrstuhls für Germanistik im Herbst 1990. Die Konferenz mit dem Untertitel Die moderne österreichische Literatur und ihre Paradigmen des Wandels knüpft an die 2002 in Budweis begonnene und 2003 in Brünn fortgeführte bilaterale Symposienreihe zur modernen österreichischen Literatur, die diesmal durch die rege Teilnahme auch deutscher Wissenschaftler wesentlich inhaltlich bereichert werden konnte.

Das Ziel der Tagung war es, die ambivalente Charakteristik von Wendezeiten zu erfassen und ihre Besonderheiten am Beispiel markanter Wendejahre des 20. Jahrhunderts (1900 – 1918 – 1938 – 1945 – 1968 – 1989 – 2000) herauszuarbeiten. Es wurde untersucht, ob sich solche Wenden (Brüche, Kontinuitäten) in der österreichischen/deutschen Literatur in Böhmen in Bezug auf den konkreten gesellschaftlichen und politisch-historischen Rahmen feststellen lassen. Einige der wichtigsten Fragestellungen waren: Worin besteht die ausnehmende Besonderheit einer Wende? Wo liegen ihre eigentlichen Wendepunkte? Inwiefern beeinflusst der historische Kontext den literarischen und inwiefern nehmen literarische Wenden auch historische Wenden vorweg? Wie entstehen Wenden im Literaturbetrieb und wie beeinflussen sie den Buchmarkt? Klassische Moderne wie Gegenwartsliteratur bildeten dabei den gemeinsamen Horizont, zumal die genuin „österreichische“ Literatur erst mit dem Beginn der „klassischen Moderne“ ihre unverwechselbare und historisch anerkannte Spezifik gewann und die deutsche Literatur und deutschsprachige Autoren in Böhmen Jahrhunderte lang, bis in die Mitte des 20. Jahrhundert hinein, eine kulturell und literarisch bedeutende Rolle nicht nur im mitteleuropäischen Raum spielten (z.B. „Prager deutsche Literatur“, die mit solchen Namen wie Franz Kafka, R.M. Rilke oder Franz Werfel verbunden ist).

In seinem Eröffnungsvortrag illustrierte Wendelin Schmidt-Dengler, der wissenschaftliche Leiter des ganzen Unternehmens, die vielschichtige Metaphorik des Wende-Themas am Beispiel des Begriffes „Schubumkehr“, mit dem sich Robert Menasse in seinem gleichnamigen Roman auf eine von Niki Lauda übernommene Metapher bezieht und mit der er die katastrophalen Konsequenzen der bejubelten Wende von 1989 vorwegnimmt. Die Basis aller „Wenden“ und somit den ersten thematischen Schwerpunkt des Symposions bildeten politisch-historische Wenden, die in sich selbst die unterschiedlichsten „Metaphern“ und die „Schubumkehr“ erkennen lassen. Ihnen und ihrer Spiegelung bei einzelnen Autoren bzw. in literarischen Einzelwerken der Epoche – etwa zwischen Robert Musil (Die Verwirrungen des Zöglings Törleß) und Hans Lebert (Die Wolfshaut) – galt der erste Tag der wissenschaftlichen Referate. Erörtert wurde ebenfalls die Frage, ob die in Mähren (Böhmen) entstandene Literatur in deutscher Sprache als „deutsch-mährisch“ oder eher als „mährisch-österreichisch“ zu verstehen sei sowie die Folgen des Umsturzes 1918 und des Zerfalls der Monarchie als Thema einiger tschechischer und österreichischer nationalistischer Romane der zwanziger Jahre. Abgerundet wurde der Tag am Abend mit einer Autorenlesung der österreichischen Schriftstellerin Evelyn Grill aus ihrem neuesten Roman Vanitas oder Hofstätters Begierden.

Der zweite Tag begann im Zeichen der Wende im Diskurs mit einem literaturtheoretischen Beitrag zu den Zustandsänderungen aus der Sicht der chaostheoretischen Literaturwissenschaft und setzte den wissenschaftlichen Diskurs weiter unter dem Themenschwerpunkt Wende und Bio-Graphie mit den Betrachtungen der individuell-konkreten „Brüchen und Kontinuitäten“ bei einzelnen Autoren fort (Max Brod, Rainer Maria Rilke, Richard Weiner, Peter Handke, Norbert Gstrein, Christoph Ransmayr). František Langer, Franz Kafka und Max Brod interpretierte. Das Diskussionsforum des Abends mit der Literaturkritikerin Sigrid Löffler – moderiert von den Professoren Wendelin Schmidt-Dengler und Joachim Storck – führte unmittelbar in die Literatur-Situation der Gegenwart hinein. Die renommierte Literaturkritikerin beschrieb die neuen Trends und Modewellen der letzten 15 Jahre und analysierte die Marktmechanismen, die sich an deren Entstehung unmittelbar beteiligen, d.h. wie hier „Wandlungen“ und „Wenden“ mittels der Mechanismen des Literaturmarktes gelenkt, gesteuert oder abgewürgt werden. In diesem Sinne plädierte sie abschließend für eine zeitgemäße und verantwortungsvolle Literaturkritik sowie für einen mündigen Leser.

Der dritte Tag eröffnete apokalyptische Horizonte – Wende und Krieg. In den Vormittags-Referaten waren es die Unglücksdaten des 20. Jahrhunderts – 1914, 1918, 1938, 1939, für die zumeist österreichische oder böhmische Autoren die Textbelege lieferten. Nach dem einführenden Vortrag über das Jahr 1914 und den Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus der Sicht der Kulturgeschichte wurden die inneren Wandlungen und dichterische Aufbrüche in der „Prager deutschen Literatur“ nachgezeichnet und der Bogen bis zu der österreichischen Vergangenheitsaufarbeitung bei Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann gezogen. Im abschließenden Beitrag, der zugleich eine Einleitung zur Nachmittagsexkursion der SymposionsteilnehmerInnen in die Kleine Festung in Theresienstadt und in das dortige Museum bedeutete, wurde die Rolle der Kunst als ‚Überlebenskunst’ angesichts der allgegenwärtigen Präsenz des Todes im Theresienstädter Ghetto beleuchtet.

Wie stets bei fruchtbaren und „rundum“ gelungenen Tagungen, sind die Teilnehmer am Ende wissenschaftlich wie menschlich bereichert auseinandergefahren: in jene Länder, die dieses internationale Symposion (mit Hilfe von völker- und länderverbindenden Einrichtungen wie der Aktion Österreich – Tschechische Republik, dem Österreichischen Kulturforum Prag, dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds u.a.m.) getragen haben.

Man wird sagen dürfen, dass dieses internationale Symposion, das der Lehrstuhl für Germanistik in Ústí nad Labem im Rahmen seines 15. Jubiläums erstmals ausgerichtet hat, auch der Universität und der Stadt insgesamt zur Ehre gereichen konnte. Wir dürfen hoffen, ja erwarten, dass von dem Symposion, Impulse ausgehen werden, die dem Geiste einer übernationalen akademischen Tradition förderlich und verpflichtet bleiben, und dass die Vermittlung von Literatur im Diskurs gesellschaftlicher Umbrüche zu weiteren unentbehrlichen Reflexionen und Diskussionen anregen wird. Viele der Beiträge nahmen darauf mit interessanten Ausführungen Bezug und wurden, gemeinsam mit allen anderen Vorträgen, einem breiteren Publikum in Buchform vom Wiener Praesens-Verlag im Herbst 2006 vorgestellt.